📍📍Texte, bei denen es sich lohnt ganz genau zuzuhören 📍📍
Hey, hey, hey, er war der Goldene Reiter,
hey, hey, hey, er stand so hoch auf der Leiter,
doch dann fiel er ab, ja fiel er dann ab?
Joachim Witt
Als Kind der Neuen Deutschen Welle (NDW) der frühen 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ist mir Joachim Witt, geb. 1949 in Hamburg, selbstverständlich ein Begriff. Allerdings gab es für mich interessantere, vielmehr tanzbarere, Künstler, so dass er etwas in Vergessenheit geriet. Mochte ich annehmen, er fiel ab von der Leiter, ist das nicht korrekt. Joachim Witt war immer da, sozusagen
Jetzt und ehedem (aus: Rosebud - Songs of Goethe and Nietzsche, 1999)
Der Text stammt nicht aus Witt’s Feder, es handelt sich hierbei um ein Gedicht von Friedrich Nietzsche aus dem Jahre 1863. Doch allein die Tatsache, dass Witt sich mit der musikalischen Interpretation solch „schwerer“ literarischer Kost auseinandersetzt, zollt ihm eine Ehrerbietung durch die Autoren der weltberühmten Serie „DEUTSCHsprachige Interpreten der Extraklasse“ unter dem Hashtag #deutschdienstag von @meluni.
Der ursprünglich hauptberufliche Schauspieler Joachim Witt begann Mitte der 70er Jahre seine musikalische Karriere als Sänger und Autor tiefgründiger, politischer und gesellschaftskritischer Texte. Bereits in „Goldener Reiter“ ist die „Nervenklinik“ nur eine Metapher für ein Panzeraufklärungsbataillon, wo Witt seinen Wehrdienst leistete, der Text dreht sich um Wertvorstellungen und Aufrüstungsmentalität der Bundeswehr.
Als ich meinem Mann erzählte, ich arbeite an einer Vorstellung des umstrittenen Künstlers Joachim Witt, reagierte er mit „Oha, böööse!“ Diese erste Assoziation mag nicht nur an Witts tiefer sonoren Stimme und der häufigen lyrischen Verarbeitung apokalyptischer und hoffnungslos erscheinender Szenarien liegen, sie scheint durch die musikalische Entwicklung zum gothicartigen Rock sogar gewollt zu sein.
Joachim Witt konnte trotz vieler veröffentlichter Alben nicht wieder an seine Erfolge aus der Epoche der NDW heranreichen, nutze aber die Zwischenzeit von fast 20 Jahren für eine musikalische Umorientierung. 1998 erschien sein platingekröntes Comeback-Album Bayreuth I, auf dem Witt stilistisch bereits der Neuen Deutschen Härte (NDH), gleichsam mit Bands wie Rammstein oder Wolfsheim, zuzuordnen war. Die Single-Auskopplung Die Flut, ein Gemeinschaftsprojekt mit Peter Heppner, welche inhaltlich die Sehnsucht nach einem Leben in einer besseren Welt und die Unzufriedenheit über unsere und ihre Vergänglichkeit beschreibt, stürmte die Verkaufscharts.
Die Flut (aus: Bayreuth I, 1998)
Politisch brisant, verbunden mit Morddrohungen in einem „Shit-Storm“, wurde es für Joachim Witt, als er 2012 sein Lied Gloria inclusive eines Videos, in dem Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten in Kriegsgebieten dargestellt werden, herausbrachte. Der Song sollte als jugendgefährdend eingestuft werden, ein Verfahren zur Indizierung des Musikvideos wurde eingeleitet.
Ich bin ein deutscher Künstler – wir leben in einer Demokratie. Bedeutet dies, dass Herr Kirsch von der Bundeswehr offiziell zu einem ,Shit Storm' aufrufen darf? Ich bin einfach schockiert! Es ist ein Unding, sich in seiner Freiheit als Künstler einer Zensur ausgesetzt zu sehen, mit der Absicht mundtot gemacht zu werden über den Knopfdruck vom Bundeswehrfeldherrenhügel. Seit wann müssen Künstler in Deutschland wieder Angst vor der Armee haben und aus ihren Häusern flüchten?
Joachim Witt auf seiner Facebook-Seite, 2012
Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien stufte das Video als nicht jugendgefährdend ein, die Darstellung der Bundeswehrsoldaten falle unter die Kunstfreiheit.
Im Nachhinein entschuldigte sich Witt bei allen Soldaten und deren Angehörigen, die sich durch das Video zu Unrecht verunglimpft fühlten, betonte aber gleichzeitig, dass Recherchen vor der Videoproduktion sexuelle Übergriffe durch in Kriegsgebieten eingesetzte Soldaten belegen. Dies wurde im August 2012 von der Bundeswehr offiziell bestätigt, die in einer Stellungnahme von „Verstößen gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung“ sprach. Der Tagesspiegel
Gloria (aus: Dom, 2012)
Joachim Witt schreibt keineswegs nur düster, melancholisch und „böse“, in seinem unverkennbaren Stil gibt es auch „Ohrwürmer“, die in Einheit mit der Natur, dem Universum, kraftspendend und lebensbejahend wirken. So ruft er in Geh deinen Weg zu fast harmonisch anmutenden Klängen dazu auf, dem eigenen Herzen zu folgen und von außen auferlegten Zielen skeptisch gegenüber zu stehen.
Geh deinen Weg (aus: Thron, 2017)
Zusammengefasst bietet Joachim Witt keine „Gute-Laune-Musik“ und ist meiner Meinung nach als Hintergrund während melancholischer, gar depressiver Gemütszustände nicht zu empfehlen. Auch seine Musikvideos sind nichts für zart besaitete Seelen. Dennoch handelt es sich beim Gesamtwerk um wahre Kunst, wobei die Lyrik, bei der man mehrfach ganz genau hinhören sollte, definitiv dazugehört!
Ich bin mir sicher, dass auch das neue Album Rübezahl, in dem Witt “seine Liebe zum romantischen Naturalismus, ohne dabei seinen ureigenen Stil zu verlieren [beweist]“, Das neue Album einschlagen wird wie eine Bombe!