Für dieses Wochenende war er geplant, der Ausflug in die Fliederbeeren. Bewaffnet mit Spazierstock zum Herunterziehen der Zweige, Schere und Eimern wollten wir uns an die Ernte der trotz des trockenen Sommers üppigen Holunderbeeren, die derzeit überall in den Knicks der norddeutschen Ackerränder auf den nahenden Herbst hinweisen, machen und unseren Vorratskeller mit Saft für die kommende Kälteperiode präparieren. Dummerweise habe ich die Woche nicht ausreichend genutzt, um meine Erkältung auszukurieren und nun auch meinen Mann in Mitleidenschaft gezogen. Derart geschwächt verspürten wir zwar Lust auf einen sonnigen Spaziergang, nicht aber auf das Abstriezeln der Früchte von ihren feinen roten Rispen und das anschließende Entsaften mit Dampfentsafter auf der Küchenhexe.
Für einen Spaziergang in der Feldmark haben die Kräfte also gereicht und wir stellten fest, dass unser Vorhaben mit viel Wetterglück auch noch auf das nächste Wochenende verschoben werden kann. Mit der Bewegung kommt der Hunger und so sprach ich meinen Gedanken mit leicht entsetzter Betonung laut aus: "Oh nein, wir haben gar nichts eingekauft, was essen wir denn heute?" Während ich in Windeseile sämtliche Vorräte an meinem geistigen Auge vorbeiziehen ließ, vernahm ich ein versonnenes "Fleederbeersupp mit Klümp!" (Anm. d. Red.: Holunderbeersuppe mit Grießklößen).
Wow! Dieses köstliche, typisch norddeutsche Wintergericht, das ob des hohen Vitamin-C-Gehalts und wertvoller Antioxidantien der Fliederbeeren als immunsystemstärkendes und auch fiebersenkendes Wundermittel gilt, hatte ich seit mindestens 30 Jahren nicht gegessen, denn so lange weilt Oma nicht mehr unter den Lebenden. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, die Erinnerung war rasch dazu in der Lage, lang in Vergessenheit geraten geglaubte Geschmackssinne wieder zu beleben. Ich sah mich als kleines Kind auf einer umgestülpten Waschschüssel stehend in den Topf mit den Klümp starren, aufgeregt deren Aufsteigen an die Oberfläche des siedenden Wassers erwartend.
In der Hoffnung, irgendwo im Netz ein Rezept zu finden, einigten wir uns schnell darauf, dass es sich sowohl beim Gesundheitszustand als auch dem Appetit um einen absoluten Notfall handelt und es so unausweichlich ist, die allerletzte Reserve Fliederbeersaft aus 2017 zu opfern, obwohl noch kein Nachschub in Sicht ist.
Mal ganz davon abgesehen, dass ich noch nie in meinem Leben Klümp gekocht habe, war ich selten so enthusiastisch dabei, aus mehreren Rezepten eine Anleitung zusammen zu basteln, deren ins Gedächtnis gerufene Zutaten eine Fliederbeersuppe nach Oma-Art versprachen.
Der Grießklößeteig war nach dem Aufkochen von 1/4 Liter Milch, 100 g Butter, 1 Esslöffel Zucker und 1/2 Teelöffel Salz sowie dem zügigen Unterrühren von 125 g Grieß, nach dem Entfernen des Topfes von der Herdplatte unter Zugabe von 2 Eiern, schnell gemacht, das Formen der Klümp mit zwei feuchten Esslöffeln gelang mir nicht, so dass ich kurzum die Hände benutzte bevor die Klöße in reichlich siedendem Salzwasser landeten.
"Irre, Oma, schau! Auch meine Klümp treiben langsam einer nach dem anderen auf!" Vor lauter Begeisterung und dem schmunzelnden Schwelgen in alten Zeiten vergaß ich, vorbereitend zwei Äpfel zu entkernen und in mittelgroße Stücke zu schneiden sowie schon mal einen 3/4 Liter Fliederbeersaft und einen 1/4 Liter Apfelsaft mit 4 Esslöffeln Zucker, einer Zimtstange, einer Vanilleschote und etwas Zitronensaft zum Kochen zu bringen.
Keine Hektik, die Klümp kann man nach dem Abtropfen auch kurz warmhalten. Sie dürfen noch nicht in die Suppe, dann werden sie sofort knallrot und die fertige Mahlzeit sieht nicht mehr aus wie Omas!
Gut, den Fliederbeersaft samt weiterer Zutaten ließ ich ca. 3 Minuten köcheln und dickte ihn mit einem guten Esslöffel zuvor mit etwas Wasser glattgerührter Speisestärke an. Dann stellte ich den Herd auf die niedrigste Stufe, fügte die Äpfel zur Suppe und ließ sie noch etwas 5 Minuten ziehen.
Und dann haben wir nur noch genossen...
Oma sagte immer: "Fleederbeersupp is sund, aver smecken deit de bloot mit all veel Leev dorbi."
Die habe ich wohl beigefügt, denn just in diesem Moment kommt mein aus dem nachmittäglichen Genesungsschlaf Erwachter ins Arbeitszimmer, nimmt mich in den Arm und fragt, wie oft er schon gesagt hätte, wie köstlich das Essen war...