Lächelt "unwertes Leben"?

in #deutsch7 years ago (edited)
📍📍Ein kurzer Beitrag zur ethischen Diskussion rund um die Möglichkeiten und Gefahren von "Biohacking"📍📍

Inspiriert von @gexi, der sich u.a. in diesem Artikel mit der Thematik "Biohacking", hier besonders mit Genmanipulation, befasst, habe ich beschlossen, mich einem winzigen Teilbereich dieser umfangreichen Diskussionsgrundlage auf ethischer Ebene zu nähern.

Gexis Schlagwörter wie "Designerbaby" und "Ausrottung" ließen mich an einen Text erinnern, den ich vor Jahren im Rahmen einer Fortbildungsreihe für Lehramtsanwärter verfasst habe. Damals war "Dolly" bereits geklont, die Tatsache dass es im Januar 2018 chinesischen Forschen erstmals (?!) gelingen sollte, Primaten zu klonen, war unbekannt.
Abgesehen davon, dass die "Hauptperson" des folgenden Aufsatzes nicht mehr unter uns weilt und die Möglichkeiten der modernen Medizin viel weiter fortgeschritten sind, hat der Artikel meiner Meinung nach nichts an Aktualität eingebüßt, ich freue mich, wenn ihr euch darüber euer eigenes Bild macht.

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Lächelt "unwertes Leben"?


Im Rahmen meines Sonderpädagogikstudiums wurde ich mit dem Bereich „Pränatale Diagnostik“ und den dadurch entstandenen Möglichkeiten, Behinderungen schon im Mutterleib festzustellen und die Geburt eines behinderten Menschen gegebenenfalls zu verhindern, konfrontiert. Natürlich blieb es nicht beim Kennenlernen der medizinischen Grundlagen, sondern es schloss sich eine langanhaltende Diskussion über Ethik, Moral und verschiedene Menschenbilder an.

Insbesondere faszinierte mich die „Praktische Ethik“ Peter Singers. Singer (* 1946 in Melbourne, umstrittener Philosoph und Ethiker) beschäftigt sich u. a. mit der Frage nach der Wertigkeit des Menschen. Dabei teilt er die Menschheit in Personen und „Nicht-Personen“ ein. Als Nicht-Personen werden Menschen bezeichnet, die die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und zu verstehen, auf Dauer verloren haben. Dazu seien behinderte Säuglinge und schwerstmehrfachbehinderte Menschen zu zählen. Das Leben dieser Nicht-Personen sei unwert, es gäbe keinen moralischen Grund, das unwerte Leben aufrecht zu erhalten, da Nicht-Personen der Gesamtgesellschaft keinerlei rational begründbaren Nutzen brächten. Es sei daher nach Singers Moral, die sich immer an der Nützlichkeit für das lebenswerte Individuum orientieren müsse, vertretbar, behinderte Säuglinge zu töten, sofern deren Geburt nicht schon vorher verhindert werden konnte. Euthanasie sei im Sinne der Vernichtung unwerten Lebens kein Unrecht.


Schon während der Lektüre und in vertiefenden Gesprächen erschrak ich jedoch sehr, denn ich konnte das utilitaristische Gedankengut Singers nachvollziehen, hatte teilweise sogar Verständnis für einige seiner Argumente. Aber als Sonderpädagogin dürfte ich über die Richtigkeit dieser doch gar nicht erst nachdenken! Mein Menschenbild war immer geprägt von der Sicht des Menschen als Menschen. Dem Menschen als Ganzheit, der Untrennbarkeit von Körper, Seele - und Behinderung. Jeder Mensch, behindert oder nicht, ist eine Person mit individueller Persönlichkeit und gehört wertungsfrei in unsere Gesellschaft. Und bildungs- und entwicklungsfähig sind doch auch alle Menschen - jeder nach seinen ihm gegebenen Möglichkeiten, auf einem individuellen Niveau. Sollte dies nun alles ins Wanken geraten? Es sollte - und es begann eine lange Zeit des inneren Zwiespalts, des Nichtwissens, der Unfähigkeit, sich eine Meinung bilden zu können.

Diese Zeit ist vorüber, und ich möchte hier nun eine Begebenheit schildern, die zu meiner Weiterentwicklung und der Festigung meines Bildes des Menschen als Person beigetragen hat.


Karl, ein Bekannter meiner Familie, 50 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, Ingenieur in unkündbarer Stellung - kurzum ein beliebtes und anerkanntes Mitglied unserer Gesellschaft, musste sich nach einem harmlosen Gehirnschlag einer Operation am Kleinhirn unterziehen. Leider kam es zu Komplikationen, Karl fiel in ein langes Koma. Nach einigen Monaten erwachte er wieder und hatte sich sehr verändert. Es wäre müßig aufzuzählen, welche Fähigkeiten und Körperfunktionen Karl verloren hat. Karl ist nun schwerstmehrfachbehindert, er kann noch hören, denken, mit dem Daumen minimalste Bewegungen andeuten und lächeln.


Ein schweres Schicksal für Karl und seine Familie. Ein Schicksal, das niemand sich selbst und anderen wünscht, was dennoch jeden betreffen kann. Vielleicht macht sich jeder gerade deshalb besonders viele Gedanken um Karl.

Der arme Mann, ein gesunder Geist in einem toten Körper. Wie ein Säugling gepflegt werden müssen, Nahrung durch eine Sonde aufnehmen und vor allem keine Möglichkeit, sich zu äußern.
Die Familie ist rund um die Uhr eingespannt. Karl benötigt eine Dauerbetreuung, es besteht die Gefahr, dass er erstickt. Die eigene Freiheit und Freizeit ist eingeschränkt, Rückenbeschwerden sind an der Tagesordnung, Aufgaben, die sonst der Mann im Hause erledigt hat, müssen zusätzlich übernommen werden.
Welch ein Märtyrerdasein! Und was das alles kostet! Therapien, Medikamente, Spezialbett, Rollstuhl usw. Und wofür?
Fortschritte sind für Unbeteiligte kaum zu erkennen, seine einstige Stellung in der Gesellschaft wird Karl nie wieder einnehmen können.
Er quält sich doch nur, ebenso Frau und Kinder - wäre es nicht besser für alle, er wäre tot?

Wer vermag dies zu beurteilen? Wieso haben wir das Recht, so etwas zu denken, ja offen auszusprechen? Damit wird Karl doch der Sinn seines Lebens abgesprochen. Ist das menschlich? Ist er denn noch ein Mensch?


Karl kann lächeln. Karl lächelt, wenn ihm etwas gefällt. Karl lächelt immer dann besonders stark, wenn er als ganz normale Person unter normalen Personen behandelt wird. Wenn er in Alltagsgespräche einbezogen wird, wenn ihm aus der Tageszeitung vorgelesen wird, wenn geschimpft wird und wenn er einfach da ist.

Ich möchte in meinem Leben noch viele Menschen lächeln sehen!

Bild: CC0-Lizenz auf Pixabay.com

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11.02.2018

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Dein persönliches Beispiel von Karl hat mich sehr berührt, vlt auch weil ich "ähnliche" Fälle kenne. Über Singer wurde bei uns auch heiß diskutiert, mich haben diese Diskussionen auch sehr nachdenklich gemacht, es gab damals auch einige MitstudentInnen, die Verständnis geäußert haben, ich war schockiert und für mich passte diese Haltung auch nur im Ansatz zu teilen, nicht in unser Berufsbild. Ich erinnere mich aber auch, dass wir im letzten Ausbildungsjahr, nachdem wir bereits deutlich mehr Praxiserfahrung hatten, erneut diskutierten und viele ihre Meinung stark verändert haben, durch Menschen, die sie kennen gelernt hatten.. Insgesamt ist es aber wirklich ein sehr heikles Thema, man darf natürlich auch nie das Verständnis für andere Ansichten verlieren. Super Beitrag, danke für den Link =)

Toll, dass du den Weg zum Beitrag gefunden hast, danke für's Lesen und gehaltvolle Kommentieren.
Bin gerade im Urlaub, deshalb halte ich mich ganz kurz und wünsche dir frohe Ostern!
Bis bald, wir lesen uns 😉

Dann genieß mal noch schön deinen Urlaub, vlt gibt’s ja anschließend einen Bericht wo ihr so unterwegs wart 😊☀️🌸 Bis bald!

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Ich finde in diesem Zusammenhang immer die Ergebnisse der Studien zu Patienten mit dem Locked-In-Syndrom interessant. Die Vorstellung selbst davon betroffen zu sein, dürfte wohl für den gesunden Menschen grausig sein und die Aussage, dass, sofern der Fall eintreten sollte, man sich keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr wünscht, wäre nachvollziehbar.

Man unterschätzt jedoch die Anpassungsmöglichkeiten der menschlichen Psyche. Die Ergebnisse zu den Befragungen der Betroffenen waren jedenfalls überraschend.

Money quote: "The well-being and relative satisfaction with quality of life was not found to be associated with physical function."

Schwieriges Thema auf jeden Fall.

Danke für deine Rückmeldung, @croctopus!

Ja, genau, wer vermag über die Lebensqualität solcher Patienten zu urteilen? Nur sie selbst! Schön, dass du die Studie verlinkt angegeben hast!

Ich hatte mal einen betroffenen Schüler. Er konnte einen Sprachcomputer via Augenscanning bedienen. Das hat ihn allerdings sehr angestrengt.
Nun, mittlerweile ist er Ende 20, erfreut sich "ansonsten" bester Gesundheit und strahlt trotz seines "Schicksals" für andere unbegreiflich viel Lebensfreude aus.

Heikles Thema. Danke für's Lesen!

Ich hatte vor vielen Jahren die Ehre, ein paar Monate einen Mann Mitte 30 mit dem Locked-In Syndrom zu betreuen. Er war so ziemlich der beeindruckenste Mensch den ich je getroffen habe und hat meine Weltanschauung sehr geprägt. Ich bin unglaublich dankbar für alles was er mich gelehrt hat und ich glaube, viele andere Menschen ebenfalls.

Gerade von Menschen die nicht dem entsprechen was wir als die Norm/Gesund etc definieren, sind uns oft die grössten Lehrer.

Hallo Rachel,

vielen Dank für deine Rückmeldung!
Ich freue mich sehr, dass hier so viele Beispiele genannt werden! Menschen mit Locked-In-Syndrom sind natürlich ein Paradebeispiel, erkennen wir oft schnell den Esprit, der in ihrem Körper gefangen ist. Ein wacher Geist findet in der Gesellschaft noch deutlich mehr Anerkennung als stark eingeschränkte kognitive Fähigkeiten. Berufsbedingt denke ich natürlich oft an diese Personen, wenn es um die Diskussion von "Behinderung" geht.

Gerade von Menschen die nicht dem entsprechen was wir als die Norm/Gesund etc definieren, sind uns oft die grössten Lehrer.

Dem gibt es nichts hinzuzufügen!
Ich glaube auch, dass in diesen Menschen ganz weit entwickelte Seelen stecken, die vorher ausgehandelt haben, in welchem Körper sie der Menschheit etwas aufzeigen wollen. Das ist aber etwas, worüber ich mich mit dir tatsächlich mal gerne persönlich unterhalten möchte 😉

LG, Chriddi

Chriddi- ein ganz toller Artikel von Dir- vielen Dank dafür. Als Mutter eines Kindes mit einer Behinderung ist mir dieses Thema natürlich nicht ganz fremd und mich bewegt dieser Artikel sehr. 👍

Hallo Romy,
vielen Dank! Freut mich sehr, dass der Artikel (dich) bewegt! Ist wie gesagt ein heikles Thema.
Hoffe, dass du in deinem eigenen Verarbeitungsprozess, ein Kind mit Behinderung und mit allen Liebenswürdigkeiten, die ein Kind nur so haben kann, dein eigen nennen zu dürfen, soweit bist, dass die Konfrontation mit Singers Utilitarismus dich zwar bewegt, aber nicht (mehr) schmerzt.
😘 Chriddi

Danke, liebe Chriddi. Es hat lange gedauert, bis ich das irgendwie akzeptieren konnte. Wobei es für uns nie in Frage gekommen wäre, ein Kind aufgrund einer Behinderung abtreiben zu lassen. Es gibt aber eben auch Situationen, wo es unter der Geburt zu Problemen kommen kann, die dann Folgen haben. Das ist aber eine längere Geschichte... Er ist der absolute Sonnenschein, ein kleines (nun schon größeres) Goldkind und für nix in der Welt würde ich ihn hergeben. Allerdings ist es eben auch keine schwere Behinderung und auch der Kleine kann sehr gut damit leben. Sicher ist es eine Gratwanderung, dieses ganze Thema. Natürlich kann muss man jeden Fall ein Einzelfall betrachten. Da gibt es meiner Meinung nach kaum Gemeinsamkeiten. Ist und bleibt ein schwieriges Thema.
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Danke für das Foto deines "Goldjungen"! Na, wer überlegt da noch?!

"Schwere" oder "leichte" Behinderung liegt ja immer im Auge des Betrachters. Und besonders sollte das der Betroffene selbst beurteilen dürfen. Solange er das (noch) nicht kann, dürfen wir ihn dabei unterstützen, eine selbstbewusste Persönlichkeit "trotz"/mit Behinderung zu werden.
Da die meisten betroffenen Personen ja gar nicht fühlen/wissen, wie es denn so ohne Behinderung ist (das können sie sich nur denken, manchmal spüren), entscheiden sich die meisten für's LEBEN! Ein Leben mit allen Möglichkeiten, die sie eben haben.

Nicht nur deshalb bin ich sehr froh, dass vor Abtreibungen psycho-sozial ganz genau geprüft wird und die Zwangsstirilisation für behinderte Menschen per se schon lange nicht mehr durchgeführt werden darf.

Ja, liebe Romy, ein unglaublich umfassendes Thema, mit sehr, sehr vielen Baustellen!

LG, Chriddi

Da stimme ich Dir auf jeden Fall zu. Wenn ich mal jetzt von mir selbst ausgehe.... ich kann einfach nicht sagen, wie ich mich selbst für mich (könnte ich es dann noch) entscheiden würde (könnte). Ist wirklich ein sehr komplexes, aber vielschichtiges Thema.
Auf jeden Fall regt Dein Post ganz arg zum nachdenken und zur Beschäftigung mit diesem, von jedem sicher gern verdrängten, Thema an.

Zu Singer muss ich sagen, dass ich sein Gedankengut in der heutigen Zeit nicht mehr angebracht finde, dafür gibt es schon zu viele (technische) Hilfsmittel.
Das Problem sehe ich mehr in der Politik, bei uns(in Österreich) ist es leider gerade so, dass Menschen mit Behinderungen, die arbeiten können, nicht Vollzeit arbeiten bzw. nicht für ihre Pension einzahlen, können.(In einem meiner Politikposts ist das auch genauer beschrieben)
Es Bedarf hier mehr Ressourcen, auch für die Betreuung, ich finde es bemerkenswert was diese Menschen leisten!

Um mich nochmal auf meinen Kommentar zu beziehen, viele Menschen mit Behinderungen, wollen keine Kinder bekommen, weil sie es den Kindern nicht zumuten wollen und ich muss sagen, keiner hat ihnen da was drein zu reden, es ist voll und ganz ihre Entscheidung. In diesem Fall meine ich ist es gut, wenn man sich drauf verlassen kann...

Das Problem liegt ja auch noch in der Medizin, es werden teilweise noch zu viele Fehler gemacht... Eben beim Klonen, dass nur 40% überleben zeigt wie viel Arbeit da noch zu machen ist.

Zu dem Fall den du geschildert hast gibt es eine recht gute Blick Mirror Folge, wo man das Bewusstsein der Person in eine virtuelle Welt hochläd, natürlich nur wenn das gewünscht ist, um ein "besseres" Leben zu gewährleisten.
Mir geht es um Selbstentscheidung und Würde, die durch Technik besser umgesetzt werden soll!

LG Gexi

Vielen Dank für deine Rückmeldung, lieber @gexi!

Ja, dem Singer wurde oft nationalsozialistisches Gedankengut vorgeworfen, diese Argumentation konnte aber nie wirklich aufrecht erhalten werden. Vielleicht hat er sich ja gerade wegen der weiterentwickelten medizinischen Möglichkeiten in seiner ethischen Diskussion auch weit in den Bereich der Tierversuche begeben.

Es gibt so viele Perspektiven, das "Problem" liegt nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft. In der BRD wird jetzt, leider von "oben" vorgegeben, viel auf Integration gesetzt.
Ich arbeite mit dem Integrationsfachdienst zusammen. Meine Schüler erhalten teilweise tolle Praktikumsbeurteilungen, sie hätten nicht anders als andere gearbeitet. Wenn man die Praktikumsgeber fragt, ob sie sich denn auch eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorstellen könnten, ist das betretene Schweigen oft groß...

Ein super spannendes Thema mit unendlich vielen "Baustellen"!

Ich danke dir erneut für die Inspiration und habe schon wieder ganz viele Ideen, was noch wie aufgearbeitet werden könnte 😉

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