Noch heute erinnere ich mich gut an den warnenden Ausruf meiner Mutter, wenn ich eiligen Schrittes die linoleumbelegte Treppe zu unserer kleinen Wohnung hinaufrennen wollte. Stärker sogar ist mir der Duft frischen Bohnerwachses im Gedächtnis, ich verbinde mit ihm Kindheit, Heimat und Samstag.
Jeden Samstag war bei uns Putztag, jeden Samstag hat meine Mutter die Treppe gewichst, gebohnert, gewienert. Die Treppe wurde nach dem Abwischen mit Bohnerwachs bearbeitet, so wurde sie gepflegt, glänzte schön, war aber auch ordentlich rutschig.
Auch mein Vater wichste regelmäßig samstags. Bewaffnet mit Bürste, Lappen (vornehmlich alte Wollsocken) und Schuhcreme (Wichse) machte er sich über die ledernen Schuhe der ganzen Familie her. Da diese damals keine Wegwerfware waren, wurden sie nicht nur gut gereinigt und gewichst, sondern auch repariert. So wurden z.B abgelaufene Sohlen mit angepassten Gummikeilen ausgebessert, verbogene oder verlorene Schnürsenkelösen neu vernietet.
Wichsen ist ein sehr altes Wort für putzen, polieren, reiben, das bereits im 15. Jahrhundert erstmals lexikalisch erwähnt wird. Hier mal ein Auszug aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, welches die beiden begeisterten Philologen 1838 begonnen haben. Erst nach 123 Jahren wurde das beeindruckende Werk in 32 Bänden 1961 fertig gestellt, es wird noch heute nach ihren Urvätern als "Der Grimm" bezeichnet.
Heute wird nicht mehr gewichst, vielleicht sogar, weil zu viel "gewichst" wird.
Nach dem Auftragen des Wachses wurden Fußböden und Schuhe gründlich poliert. Weil man die Objekte dabei kräftig reiben musste, konnte wichsen schon im 19. Jahrhundert auch „onanieren“ bedeuten. Mehr und mehr erlangte die klassische Vokabel in unserer so offenen Gesellschaft somit anrüchigen Charakter.
Mit Schrecken musste ich während der Recherchen feststellen, dass der Thienemann Verlag 2013 nach dem Wort "Neger" aus einigen Kinderbüchern auch das Verb "wichsen" aus "Die Kleine Hexe" von Ottfried Preußler entfernt hat.
Plötzlich war eine gute Tat der Kleinen Hexe, das Wichsen der Stiefel der Oberhexe, politisch inkorrekt.
Schade, noch ein Wort außer Betrieb...