Schon öfter habe ich hier, aber auch wo anders gelesen und gehört, dass das Grundgesetz keine Verfassung ist. Daher will ich an dieser Stelle die verschiedenen Argumente behandeln, die gegen eine Verfassungsqualität des Grundgesetzes angeführt werden.
Um es vorwegzunehmen: Ich bin - genauso wie übrigens auch alle Verfassungsrechtler, die ich kenne - davon überzeugt, dass das Grundgesetz eine Verfassung ist. Und zwar ist es eine Verfassung im formellen (= Niederlegung der Staatsgrundordnung in gesetzlicher Weise) und materiellen (Rechtsregeln über Grundlagen, Aufbau und Tätigkeit des Staates) Sinne.
Ich werde die Zweifel aber anhand der folgenden Fragen behandeln. Der Übergang zwischen den einzelnen Punkten ist oft aber fließend. Mir ist dabei natürlich auch bewusst, dass es bestimmt auch manche geben wird, die meine Antworten dazu nicht überzeugend finden.
I. Warum heißt es dann Grundgesetz und nicht Verfassung?
Das ist zunächst natürlich erstmal ein sehr formales Argument. Nachdem eine Verfassung aber nicht zwingend den Namen "Verfassung" haben muss, ist es vor allem kein zwingendes Argument. Auch in manchen anderen Ländern trägt die Verfassung einen anderen Namen.
Der Name Grundgesetz hat seinen Ursprung in der damaligen Situation: Deutschland war geteilt und man hoffte auf eine baldige Wiedervereinigung. Um die Trennung nicht zu zementieren, vermied man den Begriff "Verfassung" auch bewusst und erschuf mit dem Grundgesetz zunächst ein Provisorium. Der ursprüngliche Plan war, dass man mit der Wiedervereinigung eine neue, endgültige Verfassung erstellt und darüber abstimmen lässt. Wie wir aber mittlerweile wissen, dauerte es bis zur Wiedervereinigung noch ganze 40 Jahre. In dieser Zeit hat sich das Grundgesetz bewährt und wurde auch zum Vorbild für verschiedene andere Verfassungen.
Zusammengefasst: Anfangs war das Grundgesetz nur als provisorische Verfassung gedacht. Dennoch erfüllte es schon anfangs die Voraussetzungen für eine Verfassung und war damit auch eine. Spätestens mit der Wiedervereinigung ist es zur endgültigen Verfassung geworden.
II. Sagt Art. 146 GG nicht indirekt, dass das Grundgesetz keine Verfassung ist?
Nein. Art. 146 GG sagt zwar, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn "eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist", aber das bedeutet nicht, dass das Grundgesetz selbst nicht auch eine Verfassung ist. Es bedeutet übrigens auch nicht, dass eine solche neue Verfassung geschaffen werden soll oder muss. Es ist eine reine Ablöseklausel, die besagt, wie lange das Grundgesetz gilt.
Auch das hat seinen Ursprung zumindest auch darin, dass das Grundgesetz anfangs als Provisorium gedacht war. Im Grunde ist dieser Artikel aber nur eine Wiederholung des sowieso offensichtlichen: Mit einer neuen Verfassung verliert eine alte automatisch ihre Geltung. Dementsprechend überlegte man bei der Wiedervereinigung auch, ob man diesen Artikel streicht, hat das dann aber auf Wunsch der Linken nicht getan.
Man kann jetzt auf die Idee kommen und mit dem Wortlaut argumentieren: "Da steht eine Verfassung und nicht eine andere/neue Verfassung!". Dem kann man aber mit verschiedenen anderen Stellen des Grundgesetzes entgegnen:
- Präambel: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. - Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG: "Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung."
- Art. 21 Abs. 4 GG: "Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht"
- Art. 26 Abs. 1 GG: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig."
- usw.
Indirekt sagt somit das Grundgesetz sogar selbst, dass es eine Verfassung ist.
III. Aber muss eine Verfassung nicht vom Volk gewählt werden?
Nein, das ist tatsächlich keine Voraussetzung für eine Verfassung. Wenn das so wäre, hätte Deutschland noch nie eine Verfassung gehabt! Soweit ich das in Erfahrung gebracht habe, gab es weder für die Weimarer Reichsverfassung, noch die Paulskirchenverfassung und auch nicht für die Bismarcksche Reichsverfassung eine Volksabstimmung.
Das Grundgesetz wurde durch die Landesparlamente (mit Ausnahme von Bayern) beschlossen. Damit liegt auch eine (indirekte) Beteiligung des Volkes vor.
Eine direkte Volksabstimmung war damit auch bei der Wiedervereinigung nicht erforderlich. Zwar war dies ja der ursprüngliche Plan, jedoch sah das Grundgesetz selbst in Art. 23 GG a.F. auch eine andere Möglichkeit vor:
„Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“
Weil sich das Grundgesetz so bewährt hat und eine Abstimmung auch die Schnelligkeit der Wiedervereinigung gefährdet hätte, hat man den Weg über Art. 23 GG a.F. und nicht über Art. 146 GG gewählt. Das war durchaus legitim und meiner Meinung nach auch sinnvoll.
Eine andere Frage wäre, ob eine direkte Volksabstimmung über das Grundgesetz schöner wäre. Das vielleicht schon. Aber trotzdem fände ich es nicht sinnvoll, jetzt über das Grundgesetz direkt abzustimmen:
- Eine solche Abstimmung würde viele Probleme aufwerfen: Soll man nur mit "Grundgesetz: ja oder nein?" abstimmen lassen? Ich habe keine Zweifel daran, dass mit einer großen Mehrheit für das Grundgesetz gestimmt würde. Das wäre dann eine rein formelle Abstimmung, die aber ziemlich aufwendig wäre und keinen wirklichen Mehrwert hätte. Wenn man dagegen auch über Alternativen abstimmen lassen würde, stellte sich die Frage, wer diese bestimmen darf. Auch dies würde die wenigsten zufriedenstellen. Zudem hat das Grundgesetz so viele einzelnen Regelungen, die die wenigsten Menschen kennen, interessieren oder verstehen. Staatsorganisationsrecht ist nicht einfach und sehr trocken. Wie will man aber sinnvoll über etwas abstimmen, das viele nicht verstehen? Das stelle ich mir ziemlich kompliziert vor.
- Das Grundgesetz hat sich bewährt. Ich weiß von keiner Verfassung, die ich vorziehen würde. Die Kritik am Grundgesetz als Verfassung ist (soweit ich das bisher mitbekommen habe) ausschließlich formeller Natur. Inhaltlich ist mir, zumindest was das Grundgesetz als Ganzes betrifft, noch keine wirkliche Kritik bekannt. Insofern sehe ich auch kein Bedürfnis der Bevölkerung nach einer Abstimmung, die über ein "Es war zwar nicht erforderlich, aber es ist schöner, wenn das Volk auch noch einmal gesagt hat, dass es das Grundgesetz gut findet." hinausgeht. Etwas anderes wäre dann, wenn sich herausstellen würde, dass eine sehr große Anzahl an Bürgern inhaltlich mit dem Grundgesetz nicht einverstanden ist. Ich denke aber nicht, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein wird.
- Im Laufe der letzten 70 Jahre hat sich eine Rechtsprechung und Auslegung des Grundgesetzes entwickelt. Wenn wir plötzlich eine andere Verfassung hätten, würde das für die ersten Jahre eine ziemliche Rechtsunsicherheit bedeuten. Und das wäre nicht nur für Juristen problematisch. ^^
Diese Punkte über die Sinnhaftigkeit einer Abstimmung über das Grundgesetz sind nur meine eigene spontane Meinung. Wie gesagt hat das aber mit der Frage, ob das Grundgesetz eine Verfassung ist, nichts zu tun!
IV. Zusammenfassung
Wie ihr es vielleicht bemerkt habt, finde ich das Grundgesetz super. Und ja, es ist eine Verfassung, auch wenn es ursprünglich als Provisorium gedacht war. (Die Einkommensteuer war übrigens auch ursprünglich ein Provisorium in England, um einen Krieg zu finanzieren. Das hat mit meinem Beitrag eigentlich nicht wirklich etwas zu tun. Ich wollte es einfach mal erwähnen.) Die Gegenargumente sind meiner Meinung nach nicht überzeugend. Obwohl unter Juristen fast alles umstritten ist, habe ich daher auch noch von keinem Rechtswissenschaftler gelesen, der ernsthafte Zweifel daran hat, dass das Grundgesetz eine Verfassung ist.
Wenn ihr weitere Argumente gegen oder für die Verfassungsqualität des Grundgesetzes habt, können wir natürlich gerne diskutieren! :)
Generell gilt: wenn ihr zu diesem oder anderen rechtlichen Themen Fragen habt, stellt sie immer gerne! Und wenn ihr Kritik, Lob oder Anmerkungen habt, freue ich mich auch immer sehr :)