Weshalb ich keine Chance habe, den Überblick für das Plattenarsenal des Mannes an meiner Seite, seines Zeichens Musik-Junkie und Vinyl-Freak, zu erlangen, steht auf einem Blatt, die Tatsache, dass ich während längerer Autofahrten überwiegend mit mir unbekannter Musik aller Genres "beschallt" werde, auf einem anderen. Vor gut zehn Jahren ergab sich in seinem Wagen folgender Dialog: "Das ist aber hübsch, wer ist denn das?" - "Das ist Antony Hegarty mit seiner Band Antony and the Johnsons." - "Wie? Das ist ein Mann? Ein Counter-Tenor?" Dies nach der Urlaubsreise herauszufinden, auf der ich "Epilepsy Is Dancing" und "One Dove" noch diverse Male bewusst hörte und die Melodien sich in mein auditives Gedächtnis einbrannten, nahm ich mir fest vor. Doch wie das so ist: Aus den Ohren, aus dem Sinn.
Durch das Hören von "Mercy, mercy, mercy" schoss mir kürzlich der Song "One Dove" in den Kopf, dessen Refrain eben diese drei Wörter ausmachen. "Liebster Telefonjoker, weißt du noch, wie dieser Sänger hieß, den ich damals auf der Schwedenreise so gern hörte?" Keine Antwort. "Na, der Typ mit der wunderschönen Kopfstimme, von dem ich meinte, er sei ein Counter-Tenor." Eine verbale Antwort blieb aus, die Aufklärung wurde mir aber prompt mit "Meinst du den?", als von mir bislang nicht wahrgenommener Schatz gereicht:
Antony and the Johnsons: The Crying Light - 12'', 180 gram vinyl, audiophil, Rough Trade Records, UK 2009
Ja! Ich belegte den Thorens für mehrere Stunden und stellte fest, der einzige Nachteil der Platte ist, dass sie so kurz ist und ich häufig aufstehen musste, um mich wieder und wieder von den phantastischen, behutsam instrumentierten, durchweg ruhigen, balladenartigen Arrangements und der wirklich beeindruckenden, geschlechtlich kaum einzuordnenden Stimme Hegartys berauschen zu lassen.
Über allem entfaltet sich der Gesang Antonys: Meist im Falsett, immer etwas knödelig und voll Vibrato - wer dies nicht ertragen kann, für den bleiben Antony and the Johnsons für immer verbotenes Terrain. Alle anderen werden mit absoluter Sicherheit hingerissen sein von der verletzlichen Offenheit und Schönheit des Gesangs, der Texte und der Musik, die ätherisch, feinsinnig und anrührend aus den Boxen perlt. Das ist Musik für einsame Abende in dunklen Räumen, für lange nächtliche Autofahrten, ohne jemals anzukommen.
Antony and the Johnsons "Epilepsy Is Dancing", aus: The Crying Light, 2009
Antony and the Johnsons "One Dove", aus: The Crying Light, 2009
Über diesen Künstler musste ich unbedingt mehr erfahren und so kommen wir nun zu Anohni.
Anohni ist eine Songwriterin, Sängerin und Pianistin, die 1971 als Antony Hegarty in England geboren wurde. Sie ist eine Transgender-Künstlerin, die in ihren minimalistisch arrangierten Songs mit emotionalem Kopfgesang u.a. ihr Gefühl, über 30 Jahre im falschen Körper zu leben, und den Kampf um Anerkennung über welt- und naturphilosophische Texte verarbeitet.
1997 gründet Hegarty die Band Antony and the Johnsons, tingelt mit dieser zunächst aber eher durch Untergrund-Clubs der New Yorker Schwulen- und Lesbenszene.
2004 wird Lou Reed (The Velvet Underground) auf Antony aufmerksam und arrangiert mit ihr das Stück Candy Says, eine Hommage an Candy Darling, die transsexuelle Muse Andy Warhols. Ja, mit ihr:
My closest friends and family use feminine pronouns for me. I have not mandated the press do one thing or another... In my personal life I prefer 'she'. I think words are important. To call a person by their chosen gender is to honor their spirit, their life and contribution. 'He' is an invisible pronoun for me, it negates me.
Lou Reed feat. Antony "Candy Says", aus: Animal Serenade, 2004
Die Aufnahmen ermöglichen Antony Hegarty den Sprung auf die große Bühne, sie wird für ihre pathetischen Popdramen, samt Stimme, die das wahre Leben im falschen Körper beklagt, in der weltweiten Musikszene gefeiert. Sie wird zur gefragten Gastsängerin, arbeitet mit Musikgrößen wie Boy George oder der Isländerin Björk zusammen. Selbst der deutsche Zeitgenosse Herbert Grönemeyer sucht im Duett mit Antony einen harmonischen Ausgleich für seinen nicht ganz oktavensicheren Gesang.
Herbert Grönemeyer feat. Antony "Will I Ever Learn", aus: I Walk, 2012
Seit den späten 90ern macht Antony Hegarty auch öffentlich keinen Hehl aus ihrer Transsexualität. Sie entschließt sich mit ihrem inneren, spirituell gefestigten Wissen, dass ihr auch durch den erlangten Ruhm wegen des "Andersseins" keine Steine mehr in den künstlerischen Weg gelegt werden, 2010 zur Aufnahme der Single "Thank You For Your Love". Im dazu gehörigen Clip verarbeitet sie alte Super-8-Videos, die den jungen Transgender-Mann Antony zeigen. Mit fast schweren Klavierklängen und der sich so häufig wiederholten Titelzeile bedankt Antony sich bei universellen Kräften für ihre Existenz, für die Anerkennung ihres Seins.
Antony and the Johnsons "Thank You For Your Love", aus: Swanlights, 2010
Mehr und mehr verweigert Antony die körperliche Präsenz, verhüllt sich bei Bühnenauftritten durch weite Gewänder. So stünde ihr Körper nicht mehr unter Beobachtung, was ihr mehr Raum für die Kunst an sich verschaffe.
Seit 2015 nennt Antony sich Anohni, veröffentlicht unter diesem Namen 2016 ihr erstes Soloalbum Hopelessness. Die gewohnten ruhigen Klänge werden hier zu Dance und Soul, die persönlichen, philosophischen Texte zu politischen, die staatliche Überwachung, Drohnen-Krieg und Umweltzerstörung thematisieren.
Die Single-Auskopplung "Drone Bomb Me" ist musikalisch wie gehabt wunderschön, vom Text her ungekannt brutal: Es handelt sich um ein Liebeslied, erzählt aus der Perspektive eines jungen Mädchens in Afghanistan, dessen Familie von unbemannten US-Drohnen hingerichtet wurde. Es träumt nun davon, vernichtet zu werden.
Sehr spannend ist die Videoumsetzung zu diesem Lied. Wie auch bei anderen ihrer als Anohni produzierten Werke, tritt die Künstlerin nun völlig in den Hintergrund, verbirgt ihre Körperidentität und lässt hier Naomi Campbell die Lippen zum Song bewegen.
Anohni "Drone Bomb Me", aus: Hopelessness, 2016
Ich denke, wir sind uns einig: Anohni muss weiter beobachtet werden und das vorgestellte Album von Antony and the Johnsons ist ein Muss für das Plattenregal eines jeden audiophilen Analogis!