Dieser Beitrag dient der Aufarbeitung eines Ereignisses, das mich, als Person, die ich im wahrsten Sinne des Wortes keiner Fliege etwas zu Leide tun kann und jedes verstorbene Lebewesen, welches größer ist als eine Hummel, würdevoll beerdige, am vergangenen Wochenende sehr bewegte, bedrückte, betrübte und vor allem nachdenklich machte. Diese emotional bedeutungstragenden Gedanken über die Wertschätzung und Daseinsberechtigung allen Lebens, die Vergänglichkeit des Seins und die Überheblichkeit der Menschheit werde ich ob ihrer Vielschichtigkeit nicht mit dem werten Leser teilen, möglicherweise aber zu ähnlichem Sinnieren anregen.
Wem es allein schon bei der Erwähnung des Namens des Nagetiers aus der Gattung der "echten Mäuse" (Murinae), der Vorstellung des augenscheinlich nackten Schwanzes, der Angst vor übertragenen Krankheiten etc. den Ekel durchs Mark treibt, der möge das Lesen dieses Artikels bitte an dieser Stelle einstellen, denn es wird ein geschmack- und pietätloser Bericht, er handelt von Ratten.
Günter Grass: Selbstbildnis mit Rättin. Radierung, 1985. Quelle
Alles stampfte, trabte, hüpfte, tippelte, huschte, kroch, flatterte, schlich, ringelte sich [in die Arche] hinein, der Regenwurm und seine Würmin nicht vergessen. Paarweise nahmen sie Zuflucht. [...] Doch immer, wenn sich Ratz und Rättlin einreihen wollten, um gleichfalls Zuflucht zu suchen, hieß es: Raus! Weg hier! Verboten!
Das rief nicht Noah. Der führte stumm und verkniffen unterm Kastentor seine Strichliste. Tontafeln, in die er Zeichen kerbte. Das riefen seine Söhne Sem, Ham, Japheth, drei massige Kerle, denen später, laut Weisung von oben, aufgetragen wurde: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde. Die schrien: Haut endlich ab! Oder: Für Ratten Zutritt verboten! [...]
Und hätte nicht, sagte die Rättin, während die Arche sich zusehends füllte, Gottes Hand uns aufgehoben, nein, noch sicherer: hätten wir uns nicht eingegraben, unsere Tiefgänge gepfropft und die Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht - es gäbe uns heute nicht. Nennenswert wäre niemand zur Stelle, dem es gelingen könnte, das Menschengeschlecht zu überleben.
Günter Grass, Die Rättin. Roman. Luchterhand. Darmstadt und Neuwied 1986
Aufmerksam wurde ich zum Ende des letzten Herbstes auf sie, erschrak mich in der Dämmerung am knarzenden Geräusch eines härteren Gegenstands auf Metall, nahm einen Körper wahr, der sich mit den Hinterbeinen an die Regenrinne krallend, mit langem Schwanz das Gleichgewicht austarierend, geschickt einen am Schuppendachvorsprung befestigten Meisenknödel angelte. Ein kurzes Schmatzen, ein aufmerksames Innehalten, aufgeregtes Schnüffeln und Schauen, ein meisterliches Fallenlassen und zügiges Traben um die Ecke des Schuppens zu einem außen gelagerten Holzhaufen ließen sie blitzschnell verschwinden, die Ratte.
Dieses Verhalten beobachteten mein Mann und ich noch ein paar Tage, immer zur selben Zeit, stets nur einmal am Abend. Ohne das Wissen um den abendlichen Besucher wäre es kaum aufgefallen, dass die Substanz des Meisenknödels sich ein wenig schneller verringerte als die der anderen weiträumig verteilten Vogelfutterspender.
Auf dem Land finden die Nager außerhalb von Müllhalden oder städtischer Kanalisation in Ställen und Schuppen noch ausreichend schützendes Habitat, in Futter- und Getreidelagern ein ausreichendes Nahrungsangebot, so dass die gelegentliche Sichtung eines Exemplars auch im viehlosen Siedlungsgebiet nichts Ungewöhnliches darstellt. Wir machten uns weniger Gedanken um Krankheiten, Rattenflöhe oder das Eindringen eines Tieres in unser Haus, sondern um die Beschaffenheit von Gartenmobiliar und Kabeln im Außenbereich, die mit den festen, nachwachsenden Schneidezähnen der Ratte gern mal bearbeitet werden. Eine Lebendfalle musste also her, die Umsiedelung des Tieres war fester Bestandteil einer ausgeklügelten Planung.
Wir begannen zu scherzen, die Ratten kämen immer zu zweit: eine hielt die Klappe hoch, die andere holte die Leckereien aus der Falle. Jeden Morgen fehlten Brot, Sonnenblumenkerne und Kuchen - Käse, Wurst und Hundefutter blieben grundsätzlich liegen, doch von einer Ratte fehlte im Käfig jede Spur. Vermutlich stimmte diese Annahme, nach einem ersten gescheiterten Versuch einer Ratte, den Coup allein durchzuführen und dabei festzusitzen. Denn Ratten sind sehr soziale Tiere, sie helfen einander in Notsituationen, auch wenn sie selbst dabei in Gefahr geraten. Sie sind sehr intelligent, erkennen nach Versuch und Irrtum Mechanismen und sind zu Werkzeuggebrauch fähig. Weiter ist bekannt, dass sie miteinander über Erfahrungen kommunizieren, miteinander spielen, miteinander lachen.
Die [Nächstenliebe] müsse man Ratten nicht predigen. Die sei unter Ratten üblich seit Rattengedenken. Einzig das Menschengeschlecht habe sich Nächstenliebe zum Gebot machen müssen, unfähig, es einhalten zu können, wie sich gezeigt hätte.
Günter Grass, Die Rättin.
Ich sprach mit einem befreundeten Biologen über die Nahrungsvorlieben unserer Ratte/n, der meinte, wenn es sich tatsächlich um rein vegetarische Exemplare handelte, könnten wir einer kleinen ökologischen Sensation gegenüber stehen und die Hausratte (Rattus rattus) beherbergen. Dieses Nagetier sei vom Aussterben bedroht, wurde es durch seinen angepassteren Artgenossen, der Wanderratte (Rattus norvegicus), in erster Linie aber durch den Menschen, dessen immer solidere Bauten und dessen Gifte, aus seinem natürlichen Lebensraum in Menschennähe verdrängt.
Ich wurde zur Rattenexpertin, merkte mir Unterschiede im Aussehen, ging auf Spuren- ja, selbst Kotsuche. Ich fand weder noch, wir sahen die Ratte nicht wieder, da der Meisenknödel nicht erneuert und weiteres Vogelfutter sicher in Dosen aufbewahrt wurde. Wir beschlossen also, uns mit unserem Gast zu arrangieren.
Im tiefsten Winter erklomm ein hungriges Tier am helllichten Tag das Vogelhäuschen. Es sah uns ganz genau, aber das schreckte es nicht ab, es war hungrig. Wir ließen es wenige Minuten gewähren und fütterten ein paar Abende mit der Lebendfalle erfolgreich bzw. erfolglos zu. Sehr selten sahen wir ab und zu ein Tier unter dem Futterhäuschen nach Resten suchen.
Im Frühjahr spazierte ein Nagetier gelegentlich über die Terrasse zum Teich und wusch sich mit den handähnlichen Vorderpfoten das Gesicht. Das war sehr possierlich anzuschauen, allerdings mussten wir uns langsam fragen, ob wir die Ratten des Dorfes gezähmt hatten, denn unsere Anwesenheit oder die unseres alten Hundes störte die Nager, die immer nur einzeln zu sehen waren, nicht, hatten wir Besuch oder befand sich der junge Hund draußen, ließen sie sich nie blicken.
Wanderratte (Rattus norvegicus) Quelle
Spätestens als „die“ Ratte deutlich kleiner wurde, war uns klar, dass wir handeln mussten. Denn auch auf dem Land ist „Rattenbefall“ meldepflichtig, ein angeordneter Kammerjäger vergiftet dir alles, was kreucht und fleucht. Wir informierten uns über alternative Jagdmethoden, letztlich war die einzige „humane“ Möglichkeit aber, ziemlich viel Unruhe zu stiften und die Ratten flüchten zu lassen. Wir räumten Garage und Schuppen auf, stapelten Holzhaufen von einer Stelle auf die nächste, fanden unter einem Holzstapel sogar den Einstieg zu einem Bau, den wir mit Erde zuschütteten.
Und dann klingelte der Nachbar.
So diskret wie irgend möglich, im Flüsterton, sich nach potentiellen Lauschern umschauend, berichtete er, er habe am frühen Morgen vom Balkon aus eine Ratte beobachtet, die mehrfach vom ehemaligen Holzhaufen unter die bodennahe Holzpforte auf unsere Terrasse und zurück lief. Sie habe weder Deckung gesucht noch ein deutliches Ziel gehabt, das fand er sehr ungewöhnlich. Selbstverständlich sagten wir, wir werden uns kümmern, würden aber wegen der Hunde gern von Gift absehen. „Die Hunde kommen doch nicht an die Köder.“ - „Nein, aber sie könnten eine verendete Ratte fressen.“ - „Ach was, die Tiere verkriechen sich zum Sterben.“
Ich weiß nicht, warum wir uns dem Druck der Nachbarschaft gebeugt haben, kann es mir auch jetzt, nach langer Schreib- und Denkpause kaum erklären.
Jedenfalls begrüßten alle die Tatsache, dass wir samt Hunden in der kommenden Woche nicht zu Hause wären und der Nachbar stand bewaffnet mit Giftködern und passenden Rohren zehn Minuten später wieder vor der Tür.
Gegen Schluß der Humangeschichte hatte sich das Menschengeschlecht eine Sprache eingeübt, die beruhigend ausglich, schonungsvoll nichts beim Namen nannte und selbst dann noch vernünftig klang, wenn sie Blödsinn als Erkenntnis ausgab.
Günter Grass, Die Rättin.
Als wir nach fünf Tagen Abwesenheit wieder den heimischen Grund betraten, lagen zwei tote Ratten mitten auf der Terrasse und eine weitere schwamm leblos im Teich. Von wegen „die Tiere verkriechen sich“. Während der Beerdigung, die ich vornahm, redete ich mir ein, die Nager seien mit Sicherheit den plötzlichen Herztot gestorben, sonst lägen sie ja nicht direkt auf der Pläne. Das ist natürlich völliger Quatsch.
Würde ein sogenanntes Pioniertier vom „Futter“ erkranken oder sterben, fräßen die Artgenossen dieses nicht. Deshalb wird Gift eingesetzt, das sehr zeitversetzt wirkt. Es werden chemische Blutgerinnungshemmer genutzt, durch die über Tage die Bildung von Thrombozyten in der Leber des Nagetiers unterbunden wird. Gleichzeitig zerstört das Gift die Blutbahnwände der Ratte (oder jedes anderen Tieres, egal ob Säuger, Vogel oder Amphibie, das mit dem Gift oral in Berührung kommt). Das Tier verblutet innerlich, leidet und stirbt qualvoll.
Am selben Spätnachmittag saß ich etwas bedrückt und recht müde auf der Terrasse, als eine kleine Ratte kraftlos aber entschlossen die Stufe zur Terrasse erkletterte und direkt auf mich zu torkelte. Panisch überlegte ich mir, wie ich sie von ihrem Schmerz erlösen könnte und traute mich einfach nicht, ihr mit dem Spaten das Genick zu brechen. Ich flüchtete vor dem Anblick des sich quälenden, mittlerweile liegenden Tieres, kam doch entschlossen wieder zurück, flüchtete erneut und bekam dann mit, wie die Ratte nach einem schrillen Fiepen den letzten Atemzug tat. Beerdigung Nummer vier.
Was wollten die Tiere auf der Terrasse? Suchten sie Schutz? Suchten sie Hilfe und Unterstützung von denen, die sie bislang einfach in Ruhe leben ließen?
Abends fragte mein Mann mich, wo denn der Rattenfriedhof sei, ich wolle gar nicht wissen, was gerade passiert wäre. Ich wusste es doch, nur er hatte den Spaten zur Hand genommen.
[Die Menschen] haben alles versaut. Mussten sich immer kopfoben was ausdenken. Hatten, selbst wenn Überfluß sie ersticken wollte, nicht genug, nie genug.
Günter Grass, Die Rättin.