Kein Schallplattenladen, ein Teil unserer Wohnungseinrichtung
In diesen unruhigen Zeiten liest man immer wieder, es sei besser, einen Goldklumpen sein Eigen zu nennen, als ein paar digitale Bitcoins in der Wallet zu horten. Ähnlich verhält es sich bei Vinyl-Schallplatten, deren kultureller Wert im Vergleich zu flüchtigen Bytes auf CD oder kurzlebigen Streams per Spotify & Co quasi unvergänglich ist. Wurde die Schallplatte in den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts fast schon für tot erklärt, erlebt sie seit einiger Zeit eine Renaissance. Nachfrage und Wert steigen (besonders für Sammler) stetig.
Während ich mich mit Finanzmärkten kaum auskenne, kann ich behaupten, ein wenig Ahnung von der Vinyl-Schallplatte, der ich vor zwei Jahren zum 70. Geburtstag gratulierte, zu haben, weil ich mit einem Sammler zusammenlebe, der mich mit seiner seit bald 50 Jahren bestehenden Leidenschaft ansteckte. Dabei muss ich gestehen, mich meinem Schicksal gefügt zu haben. "Die Platten oder ich", wagte ich aus berechtigten Befürchtungen nie auszusprechen. "Ich will nicht in einem Vinyl-Lager wohnen, miete dir doch einen beheizbaren Raum", zeigte zwar Wirkung, doch irgendwann wird auch solch ein Raum wegen Überfüllung geschlossen. Begönne mein Mann heute, all die sich in unserem Haushalt befindlichen Platten pausenlos abzuspielen, würde er sie zu Lebzeiten nicht hören können, selbst wenn er altersmäßig Johannes Heesters überträfe. Das muss er auch nicht, denn sein Hobby ist mehr als die Liebe zur Musik, die Schallplatte ist mehr als ein Tonträger!
"Analogis" schwören auf den warmen, natürlichen Klang einer guten Schallplatte, es wird bei der Aufnahme keine Frequenz eingespart (wie z.B. bei mp3-Formaten), jeder kleine Kratzer erzählt eine Geschichte! Die Schallplatte ist ein haptisches Erlebnis, wenn du dir beim Herausziehen aus der Hülle eine bestimmte Grifftechnik angewöhnst, um ja keinen fettigen Fingerabdruck auf dem kostbaren Vinyl zu hinterlassen! Die Schallplatte duftet nach alter Bibliothek, nach mit Druckerschwärze gefärbter Pappe, gleichzeitig nach ethanolhaltigem Kunststoff! Die Schallplattencover sind Gemälde, die teilweise wegen ihrer Gestaltung durch berühmte Mode- oder Werbedesigner gefragt sind, die ohne Lupe zu betrachten und zu bewundern sind! Die Schallplatte erzählt Geschichten! Auf den teils aufwändig gestalteten (Klapp)Covern kannst du Hintergründe zur Musikgeschichte, zum Interpreten, ja sogar zum Zeitgeschehen entdecken. Das Innersleeve bietet oft Texte - lange bevor "Bildschirm-Karaoke" überhaupt im Sprachgebrauch angekommen ist. Oder Bilder. Viele Bilder, um visuelle mit akustischen Wahrnehmungen ganzheitlich zu verknüpfen. Und - vernachlässigen wir die Neuerscheinungen - die Schallplatte hat einen finanziellen Wert. Nicht jede mittig gelochte Scheibe, aber viele. Dabei handelt es sich in erster Linie um Sammlerstücke, wobei der gemeine Vinyl-Experte an sich nicht grundsätzlich so spleenig sein muss wie Rob, der Protagonist aus High Fidelity, der, außer seines Wissens um Vinyl, kaum etwas in seinem Leben auf die Reihe zu kriegen scheint.
Die tatsächliche Wertermittlung einer Schallplatte ist eine Wissenschaft für sich und für den Einsteiger, der nun vielleicht die Zeit der häuslichen Quarantäne nutzt, um seine im Keller verstaubenden Schätze zu sichten, nicht ganz einfach. Die Interpreten oder die in des Besitzers Augen beste Musik aller Zeiten spielen meist, auch bei einem eher ungewöhnlichen Musikgeschmack, eine untergeordnete Rolle. Der Sammler schaut nach der Auflagengröße und Häufigkeit einer zur Pressung genutzten Matrix, wobei Originalaufnahmen und Erstpressungen natürlich am beliebtesten sind. Es wird nach dem Herkunftsland und dem Erscheinungsjahr ermittelt, Gewicht und Aufnahmequalität sind ebenso wichtig wie Sonderauflagen, z.B. auf buntem Vinyl. Und es geht natürlich um den Zustand einer Schallplatte. Es gibt "Mint-Sammler", die ausschließlich auf der Suche nach neuwertigen Schallplatten sind, was bei bis zu über 70 Jahre alten Exemplaren oder legendären Party-Scheiben definitiv ein riesiger Glücksgriff ist. Der Zustand einer Platte (Vinyl und Cover , sogar das Label werden strikt voneinander getrennt begutachtet) wird nach international festgelegten Kriterien, dem Goldmine- oder Oldiemarkt-Standard, beschrieben und beurteilt. Mindestens damit muss der Vinyl-Sammler oder -Händler sich auskennen, wenn er 1000-seitige Kataloge oder die sehr guten Web-Seiten Popsike und Discogs zur Wertermittlung unterstützend nutzt.
The Beatles: Beatles For Sale, Odeon, D 1964
Grundsätzlich gilt, wie bei den meisten Sammlerobjekten, die Faustregel "Je rarer, desto wertvoller". Das ist traurig für den enttäuschten Flohmarkthändler, der, schwelgend in persönlichen Erinnerungen, dachte "Wunder, was ich doch besitze", als er beschloss, das Blaue Album der Beatles zu versilbern. Ja, er besitzt eine Schallplatte mit phantastischer Musik - wie eigentlich jeder, der sich in der Zeit der Beatlemania Vinyl kaufte. Das Weiße Album ist schon etwas interessanter - dummerweise aber nur, wenn sämtliche beiliegenden Poster knick- und klebestreifenfrei vorhanden sind.
Die originale Beatles For Sale mit deutlich geringerer Auflage ist dagegen selten und wird - zustandsabhängig - durchaus im höheren dreistelligen Bereich gehandelt.
Selbstverständlich ist eine Schallplatte finanziell betrachtet erst dann wertvoll, wenn sich ein interessierter Käufer findet und das gute Stück klimpernd monetarisiert wird. Da bei uns kaum eine besondere Scheibe das Haus wieder verlässt, erfreuen wir uns an ganz anderen Werten...
Wir sind offen für jedes Genre, hören gern brillante Aufnahmen wie z.B. die wenigen Veröffentlichungen eines begnadeten, leider viel zu früh verstorbenen, Blues-Gitarristen...
John Campbell: Howlin Mercy, Electra, D 1993
Wir feiern mit Begeisterung ein "Must Have" der musikalischen Zeitgeschichte...
Leonard Cohen: The Future, Columbia, NL 1992
Wir küren das "ansprechendste" Cover aller Zeiten...
Country Joe McDonald: Tonight I'm Singing Just For You, Vanguard, D 1970
Oder auch das eines begabten Zeichners...
King Crimson: In The Court Of The Crimson King, Island Records, E 1969
Wir fragen uns, ob einem Künstler wie @andyjaypowell beim Anblick dieser Scheiben das Herz höher schlägt...
Wir recherchieren, weshalb dieses Cover des letzten von Jimi Hendrix produzierten Studioalbums in den USA verboten wurde...
The Jimi Hendrix Experience: Electric Ladyland, Polydor, D 1968
Und erfahren, warum die Amis mit dieser Neuauflage Vorlieb und als Sammler für die europäischen Frühpresssungen ihres Landsmanns ein Haidengeld hinlegen müssen...
The Jimi Hendrix Experience: Electric Ladyland, Polydor, D 1968
Wir punkten in der Kategorie "Und noch 'ne zerschraddelte Sticky Fingers", weil der Reißverschluss fast intakt und funktionstüchtig ist...
The Rolling Stones: Sticky Fingers, Rolling Stones Records, GB 1971
Und natürlich freuen wir uns als überwiegend Klassik Sammelnde wie die Schneekönige, wenn sich unser günstiger Fund auf dem Trödelmarkt als sehr, sehr hoch gehandeltes Sammlerstück entpuppt, wir eine weltweit heiß begehrte Rarität prall gefüllt mit wunderschöner Musik besitzen...
Johanna Martzy spielt Ravel, de Falla, Milhaud, Szymanowski, DGG (Big Tulip), D 1953
Wer aufgrund dieses winzigen Einblicks in unsere nostalgische historische wertvolle umfangreiche Tonträgersammlung meint, bei uns einbrechen zu müssen, miete bitte einen Lkw mit ausreichender Ladekapazität! Ob es sich bei den schwarzen Polyvinylchlorid-Scheiben tatsächlich um eine krisensichere Wertanlage handelt, sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall macht die Beschäftigung mit Schallplatten neben audiophilen Aspekten unglaublich viel Spaß! Und am Ende gilt sowieso das, was Mäx leider bereits vor dem wütenden Geschimpfe seines Herrchens festgestellt hat: dass man Vinyl nicht (fr)essen kann... ;-)